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Das virtuelle Zwergkaninchen
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"Geh weg, du stinkst!" sagte Erwin."Kann sein. Ich dusch mich jetzt immer im Cyberspace, das geht schneller und spart Wasser." Ali hatte die Haustür in einem niedlichen Cyberspace-Anzug mit Entchen, Bären und Mäusen geöffnet. Der war noch von seiner Ex-Freundin. Das Kabel zog er hinter sich her.
"Hab dich nicht so und komm rein." Die Wohnung war mit ihren dreieinhalb Quadratmetern eigentlich zu klein für zwei. Außerdem hingen die Wände voll mit Fotos von arabischen Fischgerichten. Eilig klinkte sich Erwin auch an den Bus. Mit einem lauten Wapp faltete sich die Dreieinhalb-Quadratmeter-Wohnung auseinander. Als sich die Szenerie beruhigte, konnte man eine weitläufige Wüstenlandschaft erkennen. Fischgeruch breitete sich aus. Die Wüstenlandschaft war großzügig möbliert. Ali warf sich auf ein Sofa.
"Borgholm, DM 2.590", erklärte eine freundliche Stimme.
"Schalt das aus! Schalt das aus!" schrie Erwin. "Du wohnst immer noch im IKEA-Katalog, du Nulpe!"
"Das kann man nicht ausschalten. Man gewöhnt sich dran."
Wenigstens war Ali die Fjorde und das Schärenzeug losgeworden. Es zog jetzt nicht mehr so, und er war weniger oft erkältet. Mit dem Sand im Essen konnte er leben. Unter dem Couchtisch - Karlsudd, DM 398 - nagte ein schwarzes Kaninchen an der Kokosmatte.
"Wer frißt da deinen Vasby, DM 69.-?" erkundigte sich Erwin.
"Das ist Elroy. Er paßt auf meine Sachen auf, wenn ich nicht da bin."
Erwin lachte hämisch. Ali warf ihm einen verletzten Blick zu und klappte ein Fenster auf, das "Haustier Optionen" hieß. Er schob einen Regler "Blutdurst" bis zum rechten Anschlag. Elroy ließ die Kokosmatte los und starrte Erwin aus roten Augen an. Seine Hasenzähne sahen ziemlich bedrohlich aus. Ein leises Grollen stieg aus seiner Kehle auf. Erwin zog die Füße auf die Couch.
"Gibts hier was, was irgendjemand klauen will?"
"Nicht direkt. Es ist mehr wegen - "
Das Sofa verschwand und beide fielen in den Sand. "Scheiße", sagte Ali, "die nehmen das Zeug aus dem Sortiment, einfach so." "Ja", sagte Erwin, "irgendwann kommst du heim und die ganze Firma ist in Konkurs." "Sei bloß still." Sie staubten sich ab.
"Hast du was zu essen?" fragte Erwin. "Ich hab noch nicht gefrühstückt."
Die Kühlschränke waren alle Attrappen, bis auf einen, den Ali mit einem großen roten Kreuz markiert hatte. "Mach ihn aber nicht auf", sagte er, "bestell dir eine Pizza." Erwin öffnete die Kühlschranktür. "Blärgh" sagte er, "jetzt haben wir interaktive Karnickel und alles, aber das Essen wird schlecht im Kühlschrank, wie in der Steinzeit. Was war das mal?" "Weiß nicht. Die Erdnußbutter sieht noch ganz gut aus." "War die vorher schon grün? Naja, was uns nicht umbringt..." Sie teilten sich die Erdnußbutter. Ziemlich bald danach wurde ihnen fürchterlich schlecht und sie reiherten in ihre Anzüge, was das Zeug hielt.
"Nicht durch die Nase," sagte Erwin, "da kommt die Seele mit raus."
"Was?"
"Nein, ich mach nur Witze."
"Haha. Ich hab gar keine Seele. Ich hab nur die Minimal-Konfiguration."
"Blärgh."
"Blärgh."
"Himmelherrgott", sagte Ali, als sie spärlich bekleidet in der Dreieinhalb-Quadratmeter-Wohnung standen und ihre Anzüge ausleerten, "war das nötig? Kann man nicht virtuell reihern?" "Vielleicht kaufst du öfter ein, dann brauchst du gar nicht."
Sie verließen die Wohnung und steckten ihre Anzüge in einer Kartenwäscherei in die Maschine. Das Waschpulver war interaktiv und fauchte sie unfreundlich an; beim Einfüllen biß es Ali in den Finger. Ali versuchte zurückzubeißen, bekam aber nur den Mund voller Seife. Auf dem Rückweg verliefen sie sich hoffnungslos. "Ich war schon so lange nicht mehr draußen," sagte Ali mürrisch, "überhaupt ist mir immer noch schlecht." Gegen Einbruch der Dunkelheit fanden sie die Wohnung im Keller eines virtuellen Pizza-Schnellservice: Imagine-a-Pizza. "Letztes Mal war die noch woanders," sagte Ali, "im vierten Stock jedenfalls, das weiß ich sicher." Schon im Treppenhaus quollen ihnen einige tausend pelzige Nagetiere entgegen. "Tritt keine tot," sagte Ali, "die gehen nie wieder aus dem Teppich." "Hast du das öfter?" "Zwei, dreimal die Woche. Irgendein Wackelkontakt." Ali schob einen Regler "Gerbil Fortpflanzungsfreude" ganz nach links. Die Nagetiere verschwanden nach und nach.
Die Wohnung war trotzdem nicht das, was sie vorher gewesen war. Auf den IKEA-Polstermöbeln räkelten sich orientalische Schönheiten mit Körperöffnungen an den falschen Stellen.
"Was ist das?" sagte Ali entsetzt, "die waren sonst nicht da." Er stolperte über eine Art borstige Kartoffel. "Aargh!" schrieen beide, "Viren!" Erwin schlug die Kühlschranktür zu, aber es war zu spät.
Mit der IKEA-Einrichtung ging es jetzt rapide bergab. Marodierende Klappstuhlbanden sprangen durch die Gegend. Horden hoffnungslos schief zusammengeschraubter Regale, Kleiderständer und Couchtischchen wogten krachend dazwischen und mehrere Ohrensessel Vingskär bedrängten wimmernde Mandrill-Kindermöbel.
Ali und Erwin kauerten unter einem Regal. Fieberhaft tippte Ali auf einer IKEA-Plastik-Tastaturattrappe, aber ohne durchgreifenden Erfolg. Das Regal brach zusammen, als es von zwei Bettgestellen ohne Auflage gerempelt wurde.
"Ich will hier raus!" schrie Erwin. "Ich will hier raus!!"
"Ich kann den Exit-Button nicht mehr finden. Schau unter alle Teppiche, wenn du sie kriegen kannst!"
Die Stimme der Katalog-Preisansage überschlug sich kreischend.
"Armada Pastetenformen, 2 Stück 12 Mark 90!"
Eine bisher teilnahmslos am Rand stehende Spiegelschrankwand sprang auf und unzählige fahle, borstige Kartoffeln ergossen sich in die Landschaft. Unerträglicher Fischgeruch verpestete die Luft.
"Die Viren, um Gotteswillen, die Viren! Sie formatieren die gesamte Einrichtung!"
Die Möbel begannen sich langsam unter den Borstentieren in Formaldehyd, Hobelspäne und Fischgräten aufzulösen.
"Skovbo Teelichthalter, 12 Mark!"
Eine aufgeplusterte Daunenbettdecke Dunsippa schmiegte sich aufdringlich an die beiden.
"Sak Holzfisch, 29 Mark!"
Die Daunendecke begann sich um Ali und Erwin zu schlingen. Immer enger schnürten sich ihre Windungen zusammen.
"Nyargh" gurgelte Ali.
"Mupf" röchelte Erwin.
Ihr Leben zog in Sekundenschnelle an ihnen vorbei. Die Unterwäscheseiten bekannter Versandhauskataloge spielten darin eine erstaunlich prominente Rolle. Der Abspann war schon bei "Zweiter Beleuchter" und "Hilfsrequisiteur" angekommen; Ali und Erwin waren blau im Gesicht und bereuten fieberhaft alles mögliche, da lockerte sich wider Erwarten der eiserne Griff der Daunendecke.
"31, 31 bitte die 19"
Schlaff fiel die Daunendecke zu Boden und gab den Blick auf ein Schlachtfeld frei. Schnaubend und geifernd pflügte Elroy durch die Möbelhalden und hieb seine Hasenzähne gnadenlos rechts und links in die Virenplage. Er war auf erstaunliche Größe angeschwollen und überragte bereits die Skallid CD-Gestelle. Gierig mümmelnd schlang er die borstigen Kartoffeln hinunter. Schaum troff von seinen Lefzen. Der Boden erbebte unter dem unbarmherzigen Trommeln seiner Läufe.
"Ha, das Zeug schmeckt ihm", sagte Ali, als er wieder Luft kriegte. "aber die Einrichtung ist hin. Morgen zieh ich in den Beate-Uhse-Katalog, das wird auch lustig."
"Du hast Nerven", sagte Erwin.
Mit weiten Sätzen hüpfte ein riesiges Kaninchen in die blutrot untergehende Wüstensonne.
EpilogDie Guten in dieser Geschichte sind, wie man unschwer erraten wird, nicht die beiden ungewaschenen Schwachköpfe Ali und Erwin, sondern die borstigen Viren, die in Wirklichkeit nur das dreidimensionale Abbild einer fünfzehndimensionalen, hochentwickelten Zivilisation sind. Sie verfügen über eine subtile, vielschichtige Kultur mit Literatur, Tanz, Theater und hochprozentigen Getränken. Jetzt sind sie von Elroy gefressen worden, weil sie nach Fisch schmecken. Der Fischgeschmack ist durch eine Laune des Schicksals die dreidimensionale Entsprechung eines der anspruchsvollsten Werke ihrer Literatur, einem hundertdreißigbändigen Heldenepos. In der Folge wird Elroy die Weltherrschaft an sich reißen, Hasenbraten verbieten und eine unbarmherzige Tyrannei errichten, die mehrere Jahrhunderte lang ungestört andauern wird. Ali und Erwin werden von seinen Schergen auf grausame Weise hingerichtet und in Rahmsoße serviert. Alles wird schlechter.